Vom Sozialismus zum puren Kapitalismus
AK Polenhilfe informiert - Mai 2000
Im Mai starteten wir unseren 10. Transport nach Gliwice (Gleiwitz) in Oberschlesien. 4,5 Tonnen Kleidung, Gardinen, Bettwäsche, Spielzeug und kleinere Haushaltsgegenständen fanden in einem LKW sowie einem PKW Platz. Außerdem nahmen wir Schuhe und Karnevalssüßigkeiten mit. Diesmal hatten wir keine Probleme mit dem Zoll. Das lag teilweise an unserer Erfahrung, größtenteils aber an korrekten Zollbeamten, die versuchten nicht, wie früher bereits geschehen, ständig neue Hindernisse auszudenken.
In einem Raum der Gemeinde “Mutter der Kirche” in Gleiwitz kamen am Samstag, 13. Mai, schließlich etwa 120 Menschen zusammen, an die wir die Sachen verteilten - aus den von uns betreuten Familien wie auch aus den ärmsten Familien der Gemeinde. Wie schon beim letzten Mal waren die meisten Sachen innerhalb von drei Stunden verteilt. Am schnellsten waren Bettwäsche und Männersachen weg, vielleicht, weil wir beim letzten Transport zu wenig davon mitgenommen hatten. Wir baten um kleine freiwillige Spenden für die ausgesuchten Sachen und konnten so fast 200 Mark einsammeln, die der Mittagessenausgabe an die ärmsten Kinder der Gemeinde zugutekamen.
Beim letzten Transport hatten wir den Eindruck, dass unsere Hilfe bald nicht mehr gebraucht wird. Jetzt mussten wir jedoch feststellen, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen nicht geringer, sondern immer größer geworden ist. Die Situation der meisten Menschen hat sich innerhalb der letzten Jahre sichtbar verschlechtert. Immer mehr Menschen fallen unter das Existenzminimum, das in Polen auf viel niedrigerem Niveau definiert ist als bei uns.
In einer durchschnittlichen Familie in Polen (beide berufstätig, zwei Kinder) reicht das Geld kaum, um genügend Lebensmittel zu kaufen. Die Menschen sind deshalb sehr verunsichert und machen sich keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Viele haben resigniert und schaffen es nicht mehr, mit den gewaltigen Umwandlungen in allen Lebensbereichen Schritt zu halten.
Der Sozialismus von einst wurde in Kapitalismus pur umgewandelt. Die Menschen können kaum ihre Rechte durchsetzen. Das Gesundheitswesen wurde zerschlagen. Die Regierung sagt, sie wolle das Gesundheitswesen ganz in private Hände abgeben, hat jedoch beschlossen, dass jeder Pole 7,5 Prozent seiner Bruttobezüge als Krankenkassenpflichtbeitrag abführen muss. Die Beiträge sind aber viel zu klein, um den völligen Bankrott des Gesundheitswesens aufzuhalten. Die Leute fragen sich ohnehin, wofür sie bezahlen, wenn sowieso gilt: Leistung gegen Entgelt. So muss man zum Beispiel auch für eine einfache Zahnbehandlung bei schmerzenden Zähnen bezahlen, nicht wie bei uns nur für eine Überkronung.
Korruption war schon immer ein Problem in Polen, aber nun ist sie allgegenwärtig. Korruption ist auf allen Ebenen üblich, von der Warschauer Machtzentrale bis zu den lokalen Behörden, vom Verkehrspolizisten oder Arzt bis zur Prüfungskommission einer Hochschule. Das hat damit zu tun, dass die Gehälter in Polen extrem niedrig sind, zum anderem aber gibt es bei solchen Delikten wenig Kontrollen und ein niedriges Strafmaß. Wo früher den Ärzten ganz diskret einen Briefumschlag mit Geld zugesteckt wurde, läuft das jetzt viel offener. Am schlimmsten ist das System des „Schmierens“ für kranke, arme und ältere Menschen. Es gibt unzählige Fälle, in denen Kranke wochenlang im Krankenhaus liegen und nur notdürftig behandelt werden - bis der Arzt Schmiergeld bekommt oder man sich plötzlich an gute Beziehungen erinnert. Am nächsten Tag wird der Kranke sofort operiert.
In Polen gibt es zu enge Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Gruppen sowie zwischen staatlicher und privater Wirtschaft. Außerdem hatte man sich zu Zeiten der kommunistischen Mangelwirtschaft angewöhnt, Güter und Dienstleistungen unter dem Ladentisch oder durch zusätzliche Zahlungen an diejenigen zu beschaffen, die die Macht hatten, sie zu verteilen. Diese Erfahrungen prägen das Verhalten bis heute und machen empfänglich für Korruption. Die Prägung ist so stark, dass viele glauben, es gehe gar nicht anders.
Was noch vor einem Jahr nicht so deutlich zu spüren war, ist die Angst, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt zwar „nur“ bei 14 Prozent (das entspricht 2,5 Millionen Menschen ohne Arbeit), dazu kommen aber noch mindestens 2 Millionen Arbeitslose, die in den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken nicht mehr auftauchen, weil sie kein Anrecht auf Arbeitslosengeld mehr haben. Ein erheblicher Teil davon lebt in großer Armut. Diese Situation dürfte sich noch verschärfen, weil einerseits geburtenstarke Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen, anderseits entstehen aber zu wenig neue Arbeitsplätze. Im Gegenteil, die existierenden werden im Zuge der Privatisierung massiv abgebaut. Noch schlimmer als die Lage der Städter ist die der polnischen Bauern. Zentralpolen lebt fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Kleine bäuerliche Höfe in der Größe bis 10 Hektar konnten dort lange gut existieren. Die schwache Nachfrage im eigenen Land und in Westeuropa sowie das Wegbrechen der Ostmärkte für polnische Agrarprodukte durch die russische Finanzkrise haben den Bauern das (Über-) Leben sehr schwer gemacht. Viele von ihnen konnten noch in Firmen, vor allem in der Fleischindustrie Arbeit finden. Die meisten der Firmen in Zentralpolen sind pleite, verkauft an westliche Investoren, die kein Interesse haben, die strukturellen Probleme der Region zu lösen und die Belegschaft entlassen. Viele befürchten, dass der EU-Beitritt die Zerschlagung der polnischen Landwirtschaft noch beschleunigen wird. Ähnlich wie in Deutschland wird wohl nur ein Bruchteil der Landwirte überleben. Einige Prognosen gehen davon aus, dass 90 Prozent aller Bauern die Landwirtschaft aufgeben müssen. Für die verlorengegangenen Arbeitsplätze gibt es keine Alternativen, für die Menschen keine Perspektiven.
In Oberschlesien, wo die Leute von der Arbeitslosigkeit noch nicht so sehr betroffen sind, werden die Arbeitsplätze inzwischen genauso massiv abgebaut, vor allen im Bergbau, der Energiewirtschaft und beim Maschinenbau. Es fehlt an Konzepten und an Geld für die aktive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Inflation liegt bei 10 Prozent, während die Gehälter stagnieren. Wie die Preise in Polen im letzten Jahr angezogen haben, kann man am Beispiel der Benzinpreise sehen. Vor einem Jahr haben wir für den Liter 70 Pfennig bezahlt, heute kostet er 1,70 Mark - Tendenz steigend. Es wird versucht, die Preise an das deutsche Niveau anzupassen. Dabei wird bloß vergessen, dass so etwas nicht innerhalb eines Jahres geht, gerade bei stagnierenden Gehältern von durchschnittlich 500 Mark und Renten von 300 Mark.
Nach diesen Erfahrungen in Polen werden wir unsere Transporte auf jeden Fall fortsetzen. Die Sachen, die Sie uns bringen, werden zuerst im Keller gelagert und sortiert nach Damen-, Männer- und Kinderkleidung, Bettwäsche, Schuhe, Mäntel und Spielzeug. Diese Arbeit können wir erst nach 20 Uhr verrichten, wenn unsere Kinder (zwei, vier und sechs Jahre alt) schlafen gehen. Die gepackten und beschrifteten Säcke bringen wir in einen Lagerraum. Von dort werden die Sachen abgeholt, wenn der LKW kommt. Wir arbeiten in zwei Gruppen in Hennef-Warth und in Köln-Klettenberg. Zusätzlich müssen wir genug Geld einsammeln, um unseren nächsten Transport zu finanzieren. Wir verlassen uns nicht alleine auf Ihre Spenden, sondern verkaufen auch öfters Kuchen in der Teestube in St. Bruno.
Ich frage mich öfters, warum ich die mit den Transporten verbundenen Strapazen eigentlich mitmache. Aber wenn ich in Polen die Leute sehe und mich mit ihnen unterhalte, sehe ich, dass die Arbeit und die Spenden nicht umsonst sind. Ich sehe freudige Menschen, die ihre Probleme für einen Moment vergessen und uns helfen. Es zahlt sich aus, dass wir unsere Transporte alleine nach Polen fahren und die Sachen alleine verteilen. Zu einem wird die Hilfe gezielt dort eingesetzt, wo die Menschen unsere Hilfe tatsächlich brauchen. Zu anderem macht es uns Mut, weiterzumachen, wenn wir das alles persönlich erleben und sehen. Das kann wohl jeder bestätigen, der schon ähnliche Aktionen selbst durchgeführt hat. Die von uns betreuten Familien werden mit Kleidung versorgt, sie brauchen dank Ihrer Hilfe keine Kleidung mehr zu kaufen und können das Geld für den Lebensunterhalt oder für einen Ferienaufenthalt der Kinder verwenden.
Wir sind mit unseren polnischen Freunden auch viel gewandert und haben wunderschöne Landschaften erlebt. Wir wurden überall sehr herzlich empfangen und haben die einzigartige Gastfreundschaft der Menschen erfahren.
Unseren Kontakt zur Sonderschule in Nysa (Neiße) haben inzwischen weiter ausgebaut. Die Lehrer haben gerade einen eigenen Förderverein gegründet und wollen die Verantwortung für die behinderten Kinder gemeinsam mit den Eltern übernehmen. Sie wollen in ein anderes Haus umziehen und benötigen deshalb noch Mobiliar, Arbeitsmittel und Lernmaterial. Wer kann hier helfen?
Im Juni konnten wir mit einem zusätzlichen Kleintransporter mehrere Rollstühle (davon einen elektrischen Kinderrollstuhl) nach Neiße transportieren. Die Verteilung der Sachen in Neiße übernimmt Johanna, die an einer schweren Muskelkrankheit leidet und seit Jahren auf einen Rollstuhl anwiesen ist. Der Lebensmut, den sie gerade durch ihren Einsatz für andere Menschen hat, ist für uns ein Beispiel, das uns Mut macht, unsere Arbeit fortzusetzen.
Wir möchten uns hiermit bei Ihnen für Ihre Spendenbereitschaft und Mitarbeit herzlich bedanken. Dank Ihrer Spenden und Ihrer Unterstützung konnten wir den betroffenen Familien direkt helfen. Wir werden nächstes Jahr wieder einen Transport nach Polen organisieren. Ab sofort sammeln wir wieder gut erhaltene Sachen. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns auch im Jahr 2000/2001 verbunden bleiben.
Auch im Namen der polnischen Familien wünsche ich Ihnen und Ihren Familien alles Gute
Leszek Paszkiet