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Vom Sozialismus zum puren Kapitalismus

2000-05 AKP Hilfstransport 1
Datum:
11. Juli 2000

AK Polenhilfe informiert - Mai 2000

Im Mai starteten wir unseren 10. Transport nach Gli­wice (Gleiwitz) in Oberschlesien. 4,5 Tonnen Klei­dung, Gardinen, Bettwäsche, Spiel­zeug und kleinere Haushaltsgegenstä­nden fan­den in einem LKW sowie einem PKW Platz. Außer­dem nahmen wir Schuhe und Karnevals­süßig­kei­ten mit. Diesmal hatten wir keine Pr­o­ble­me mit dem Zoll. Das lag teilweise an unse­rer Erfahrung, größtenteils aber an korrekten Zollbeamten, die versuchten nicht, wie früher be­reits ge­sche­hen, ständig neue Hin­der­nisse auszudenken.

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In einem Raum der Gemeinde “Mutter der Kir­che” in Gleiwitz kamen am Samstag, 13. Mai, schließ­lich etwa 120 Menschen zusammen, an die wir die Sachen verteilten -  aus den von uns be­treuten Familien wie auch aus den ärmsten Famili­en der Gemeinde. Wie schon beim letzten Mal wa­ren die meisten Sachen innerhalb von drei Stunden verteilt. Am schnell­sten waren Bettwäsche und Män­­nersachen weg, viel­leicht, weil wir beim letzten Transport zu wenig davon mitgenommen hatten. Wir baten um kleine freiwillige Spenden für die aus­ge­such­ten Sachen und konnten so fast 200 Mark einsammeln, die der Mittagessenausgabe an die ärmsten Kinder der Gemeinde zugutekamen.

Beim letzten Transport hatten wir den Eindruck, dass unsere Hilfe bald nicht mehr gebraucht wird. Jetzt mussten wir jedoch feststellen, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen nicht geringer, son­dern immer größer geworden ist. Die Situation der meisten Menschen hat sich innerhalb der letzten Jahre sichtbar ver­schlech­tert. Immer mehr Men­schen fallen unter das Existenzminimum, das in Polen auf viel niedrigerem Niveau definiert ist als bei uns.

In einer durchschnittlichen Familie in Polen (beide berufstätig, zwei Kinder) reicht das Geld kaum, um genügend Lebensmittel zu kaufen. Die Men­schen sind deshalb sehr verunsichert und ma­chen sich keine Hoffnung auf eine bessere Zu­kunft.  Viele haben resigniert und schaffen es nicht mehr, mit den gewaltigen Umwandlungen in allen Lebensbereichen Schritt zu halten.

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Der Sozialismus von einst wurde in Kapitalis­mus pur umge­wandelt. Die Menschen können kaum ih­re Rechte durchsetzen. Das Gesund­heits­wesen wur­de zerschlagen. Die Regierung sagt, sie wolle das Gesund­heitswe­sen ganz in private Hände abgeben, hat jedoch beschlossen, dass jeder Pole 7,5 Prozent seiner Bruttobezüge als Krankenkas­sen­pflichtbeitrag abführen muss. Die Beiträge sind aber viel zu klein, um den völligen Bankrott des Gesundheitswesens aufzu­halten. Die Leute fragen sich ohnehin, wo­für sie bezahlen, wenn sowieso gilt: Lei­stung ge­gen Entgelt. So muss man zum Beispiel auch für eine einfache Zahnbehandlung bei schmer­zenden Zäh­nen bezahlen, nicht wie bei uns nur für eine Überkronung.

Korruption war schon immer ein Problem in Po­len, aber nun ist sie allgegenwärtig. Korruption ist auf allen Ebenen üblich, von der Warschauer Macht­zentrale bis zu den lokalen Behörden, vom Ver­kehrspolizisten oder Arzt bis zur Prü­fungskommission einer Hochschule. Das hat da­­mit zu tun, dass die Gehälter in Polen extrem niedrig sind, zum anderem aber gibt es bei solchen De­likten wenig Kontrollen und ein niedriges Straf­maß. Wo früher den Ärzten ganz diskret einen Brief­umschlag mit Geld zugesteckt wur­de, läuft das jetzt viel offener. Am schlimmsten ist das System des „Schmierens“ für kranke, arme und älte­re Menschen. Es gibt unzählige Fälle, in denen Kran­ke wochenlang im Kranken­haus liegen und nur not­dürftig be­han­­delt werden - bis der Arzt Schmiergeld bekommt oder man sich plötzlich an gute Beziehungen erinnert. Am nächsten Tag wird der Kranke sofort operiert.

 

In Polen gibt es zu enge Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Gruppen sowie zwischen staatlicher und privater Wirtschaft. Au­ßer­dem hatte man sich zu Zeiten der kom­munistischen Mangelwirtschaft angewöhnt, Gü­ter und Dienstleistungen unter dem Ladentisch oder durch zusätzliche Zahlungen an diejenigen zu be­schaffen, die die Macht hatten, sie zu ver­tei­len. Die­se Erfahrungen prägen das Verhalten bis heute und machen empfänglich für Korrup­tion. Die Prägung ist so stark, dass viele glau­ben, es gehe gar nicht anders.

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Was noch vor einem Jahr nicht so deutlich zu spüren war, ist die Angst, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt zwar „nur“ bei 14 Prozent (das entspricht 2,5 Millionen Menschen ohne Arbeit), dazu kommen aber noch mindestens 2 Millionen Arbeitslose, die in den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken nicht mehr auf­tauchen, weil sie kein Anrecht auf Arbeitslosengeld mehr haben. Ein erheb­li­cher Teil davon lebt in großer Armut. Diese Situation dürfte sich noch verschärfen, weil einerseits geburtenstarke Jahrgän­ge auf den Arbeitsmarkt drängen, anderseits entste­hen aber zu wenig neue Arbeitsplätze. Im Ge­genteil, die existierenden werden im Zuge der Pri­va­­tisierung massiv abgebaut. Noch schlimmer als die Lage der Städter ist die der polnischen Bauern. Zentralpolen lebt fast ausschließlich von der Land­wirtschaft. Kleine bäuerliche Höfe in der Grö­­ße bis 10 Hektar konnten dort lange gut existieren. Die schwache Nachfrage im eigenen Land und in Westeuropa sowie das Wegbrechen der Ostmärkte für polnische Agrarprodukte durch die russische Fi­nanzkrise haben den Bau­­ern das (Über-) Leben sehr schwer gemacht. Viele von ihnen konnten noch in Firmen, vor allem in der Fleischindustrie Arbeit finden. Die meisten der Firmen in Zen­tral­polen sind pleite, verkauft an westliche Investoren, die kein Inter­es­se haben, die strukturellen Proble­me der Re­gi­on zu lösen und die Belegschaft entlas­sen. Viele befürchten, dass der EU-Beitritt die Zer­­schlagung der polni­schen Landwirtschaft noch beschleunigen wird. Ähnlich wie in Deutschland wird wohl nur ein Bruchteil der Land­wirte über­leben. Einige Prognosen gehen davon aus, dass 90 Prozent aller Bauern die Landwirtschaft aufge­ben müssen. Für die verlorengegangenen Ar­beitsplätze gibt es keine Alternativen, für die Menschen keine Perspektiven.

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In Oberschlesien, wo die Leute von der Ar­beitslosigkeit noch nicht so sehr betroffen sind, werden die Arbeitsplätze inzwischen genauso mas­siv abgebaut, vor allen im Bergbau, der Ener­gie­wirtschaft und beim Maschinenbau. Es fehlt an Konzepten und an Geld für die aktive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Inflation liegt bei 10 Prozent, während die Gehälter stag­nieren. Wie die Preise in Polen im letzten Jahr an­gezogen haben, kann man am Beispiel der Ben­zinpreise sehen. Vor einem Jahr haben wir für den Liter 70 Pfennig bezahlt, heute kostet er 1,70 Mark -  Tendenz steigend. Es wird ver­sucht, die Preise an das deutsche Niveau anzu­passen. Dabei wird bloß vergessen, dass so et­was nicht innerhalb eines Jahres geht, gerade bei stagnierenden Gehältern von durch­schnitt­lich 500 Mark und Renten von 300 Mark.

 

Nach diesen Erfahrungen in Polen werden wir unsere Transporte auf jeden Fall fortsetzen. Die Sachen, die Sie uns bringen, werden zuerst im Keller gelagert und sortiert nach Da­men-, Männer- und Kinderkleidung, Bettwä­sche, Schuhe, Män­tel und Spielzeug. Diese Arbeit können wir erst nach 20 Uhr verrichten, wenn unsere Kinder (zwei, vier und sechs Jahre alt) schlafen gehen. Die gepackten und be­schrifteten Säcke bringen wir in einen Lager­raum. Von dort werden die Sachen abgeholt, wenn der LKW kommt. Wir arbeiten in zwei Gruppen in Hennef-Warth und in Köln-Klettenberg. Zusätz­lich müssen wir genug Geld einsammeln, um un­seren nächsten Transport zu finanzieren. Wir ver­lassen uns nicht alleine auf Ihre Spenden, sondern verkau­fen auch öfters Kuchen in der Teestube in St. Bruno.

 

Ich frage mich öfters, warum ich die mit den Transporten verbundenen Strapazen eigentlich mitmache. Aber wenn ich in Polen die Leute sehe und mich mit ihnen unterhalte, sehe ich, dass die Arbeit und die Spenden nicht umsonst sind. Ich sehe freudige Menschen, die ihre Probleme für einen Moment vergessen und uns helfen. Es zahlt sich aus, dass wir unsere Transporte alleine nach Polen fahren und die Sachen alleine verteilen. Zu einem wird die Hilfe gezielt dort eingesetzt, wo die Menschen unsere Hilfe tatsächlich brauchen. Zu anderem macht es uns Mut, weiterzumachen, wenn wir das alles persönlich erleben und sehen. Das kann wohl jeder bestätigen, der schon ähnliche Aktio­nen selbst durchgeführt hat. Die von uns be­treuten Familien werden mit Kleidung versorgt, sie brauchen dank Ihrer Hilfe keine Kleidung mehr zu kaufen und können das Geld für den Lebensunterhalt oder für einen Ferienauf­enthalt der Kinder verwenden.

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Wir sind mit unseren polnischen Freunden auch viel gewandert und haben wunderschöne Landschaften erlebt. Wir wurden überall sehr herzlich empfangen und haben die einzigartige Gastfreundschaft der Menschen erfahren.

 

Unseren Kontakt zur Sonderschule in Nysa (Nei­ße) haben inzwischen weiter ausgebaut. Die Lehrer haben gerade einen eigenen Förderver­ein gegründet und wollen die Verantwortung für die behinderten Kinder gemeinsam mit den El­tern übernehmen. Sie wollen in ein anderes Haus um­ziehen und benötigen deshalb noch Mobiliar, Arbeitsmittel und Lernmaterial. Wer kann hier helfen?

Im Juni konnten wir mit einem zusätzlichen Kleintransporter mehrere Rollstühle (davon ei­nen elektrischen Kinderrollstuhl) nach Neiße transpor­tie­ren. Die Verteilung der Sachen in Neiße über­nimmt Johanna, die an einer schweren Muskel­krankheit leidet und seit Jah­ren auf einen Rollstuhl anwiesen ist. Der Lebensmut, den sie gerade durch ihren Einsatz für andere Menschen hat, ist für uns ein Beispiel, das uns Mut macht, unsere Arbeit fortzusetzen.

 

Wir möchten uns hiermit bei Ihnen für Ihre Spendenbereitschaft und Mitarbeit herzlich bedanken. Dank Ihrer Spenden und Ihrer Unterstützung konnten wir den betroffenen Familien direkt helfen. Wir werden nächstes Jahr wieder einen Transport nach Polen organisieren. Ab sofort sammeln wir wieder gut erhaltene Sachen. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns auch im Jahr 2000/2001 verbunden bleiben.

 

Auch im Namen der polnischen Familien wünsche ich Ihnen und Ihren Familien alles Gute

 

Leszek Paszkiet

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