Ich muss so um die 16 Jahre alt gewesen sein, als in meiner Heimatgemeinde an der südlichen Kölner Stadtgrenze eine Ära zu Ende ging: Unser beliebter und moderner Pfarrer ging in seinen wohlverdienten Ruhestand. Jahrzehntelang war er mit seiner zerbeulten, alten Aktentasche und mit schiefen Schuhabsätzen zu Fuß kreuz und quer durch unser Dorf gelaufen; in seiner Jackentasche klimperten immer gut hörbar 10-Pfennig-Stücke, um sich von einer nahe gelegenen Telefonzelle aus für den nächsten Hausbesuch anzumelden. Nein, er war kein mitreißender Prediger, aber ein sehr liebenswürdiger Mensch, der gut zuhören konnte; ein wirklicher Seelsorger durch und durch!
Der neue Pfarrer hatte es nicht leicht, in diese großen Fußstapfen zu treten! Sicher, er gab sich wirklich Mühe, aber der Funke zwischen ihm und seiner kleinen Gemeinde sprang nie über – zumal wenige Wochen nach seiner Einführung jemand vom Kirchenvorstand durchblicken ließ, dass der neue Pfarrer in seiner früheren Pfarrei irgendwie etwas mit Kindesmissbrauch zu tun gehabt haben soll – und das sei nicht bloß ein Gerücht. Erst drei Jahrzehnte später kamen die Untaten dieses Klerikers ans Licht der Öffentlichkeit - und wir alle waren über die bekannt gewordenen Details erschüttert!
So ähnlich wird es wohl vielen gläubigen Menschen ergangen sein, als sie im Jahr 2018 über die Ergebnisse der MHG-Studie informiert wurden. Die MHG-Studie war ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema „Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland“. Insgesamt wurden damals 38.156 Personalakten aus allen 27 deutschen Bistümern für die Zeit zwischen 1946 und 2014 ausgewertet. Das Ergebnis dokumentiert das unfassbare Leid von nicht weniger als 3.677 Opfern, einen Täterkreis von rund 1.670 Klerikern - und ein unglaubliches Versagen der im Beobachtungszeitraum regierenden Bischöfe und Bistumsleitungen. Um dem Ansehen der Kirche und insbesondere des Priesteramtes nicht zu schaden, waren in vielen Fällen keinerlei Akten über die begangenen Straftaten der Kleriker angelegt. Eventuell vorhandene Akten waren oft vernichtet oder manipuliert worden. In der vagen Hoffnung, dass
sich nach einem Gespräch mit dem Bischof oder Generalvikar kein Täter mehr ein zweites Mal an Kindern vergreifen würde, wurden die Täter meist einfach in andere Gemeinden versetzt (siehe oben) – wo es dann doch leider auch oft wieder zu neuen Übergriffen kam.
Seitdem mühen sich die römisch-katholischen Bistümer um Aufklärung, Hilfe für die Opfer, Verfolgung der Täter und Prävention - wobei unser Erzbistum Köln eine Art Vorreiterrolle übernommen hat:
- Kardinal Woelki initiierte zwei Rechtsgutachten, die die Straftaten in seinem Erzbistum gerichtsverwertbar aufarbeiten sollten. Die Idee war an sich gut, aber in der Umsetzung offenbarten sich eklatante Schwächen unseres Kardinals und der übrigen Bistumsleitung. Viele Gläubige (und vor allem betroffene Opfer!) hätten sich weitaus mehr Empathie und eine ehrlichere Kommunikation gewünscht, aber die Realität sah anders aus. Schließlich wurde bekannt, dass unser Kardinal sogar weitaus mehr Geld für professionelle Kommunikationsberater verwendet hatte, als für Psychotherapien und „Anerkennungszahlungen“ für Betroffene. Das alles führte und führt bis heute zu Rekord-Kirchenaustritten vieler Frustrierter und Enttäuschter; auch ein Großteil der MitarbeiterInnen des Kardinals kündigte ihm ihre Gefolgschaft auf. Kardinal Woelkis Rücktrittsgesuch liegt bisher noch unbeantwortet beim Papst in Rom.
- Um die Interessen der Missbrauchsopfer nicht aus den Augen zu verlieren, wurde ein Betroffenenbeirat ins Leben gerufen. Die gewählten Männer und Frauen hätten für unsere Bistumsleitung gute Ratgeber sein können, aber sie wurden in den Strudel der Querelen rund um die Rechtsgutachten mit hineingerissen und sahen sich von Kardinal Woelki instrumentalisiert – einige sogar retraumatisiert.
- Im Bereich der Prävention wurden bis in all unsere Gemeinden hinein ganz neue Wege beschritten: Es galt, die Entwicklung einer „Kultur der Aufmerksamkeit“ gegenüber Kindern und Jugendlichen voranzubringen. So wurden verschiedene Projekte ins Leben gerufen, um sicher zu stellen, dass gerade kirchliche Angebote und Einrichtungen für Kinder/Jugendliche geschützte Räume sind, in denen sie sich sicher fühlen und sich gesund entwickeln können. Hierzu gehört auch ein gewisses wachsames Auge, wenn einzelne Kinder und Jugendliche plötzlich ein auffällig anderes Verhalten zeigen als bisher – was viele harmlose Ursachen haben kann, aber eben auch ein Hinweis auf (sexualisierte) Gewalt darstellen könnte. Hierbei angemessen zu reagieren will zumindest besprochen, wenn nicht gar gelernt sein.
Aus diesem Grund hat das Erzbistum Köln - wie alle deutschen Bistümer - eine „Ordnung zur Prävention von
sexuellem Missbrauch an Minderjährigen (Präventionsordnung)“ verabschiedet, die verbindliche Maßnahmen zur Vorbeugung von sexualisierter Gewalt regelt. Hierzu zählen u. a. regelmäßige Schulungen im Kinder- und Jugendschutz für alle(!) haupt-, neben- und ehrenamtlich Tätigen. Mittlerweile haben rund 200 haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen allein aus unserem Seelsorgebereich Hennef-Ost an diesen Schulungen teilgenommen!
Als genereller Ansprechpartner wurde in jedem Seelsorgebereich nach entsprechender Schulung eine „Präventionsfachkraft“ ernannt; bei uns ist es Diakon Matthias Linse, der für Fragen rund um dieses Thema zur Verfügung steht – auch als Ansprechpartner für Opfer von Missbrauchsfällen. Das von ihm erstellte und für unseren Seelsorgebereich verbindliche „Präventionskonzept“ steht auf unserer Internetseite für jeden Interessierten zur Verfügung.
Wie es weitergehen wird?
Wer schon einmal Missbrauchsopfer seelsorglich begleitet hat, weiß um die meist stillen Schmerzen, Leiden, Nöte, Dramen und Tragödien, die sich auch noch viele Jahre nach dem eigentlichen Missbrauch ereignen können. Außenstehende können das oft nicht nachvollziehen und begreifen, was ein erlittener Missbrauch seelisch, geistig und körperlich mit Menschen machen kann. Umso sensibler hat sich unsere Kirche um die Opfer zu kümmern - und umso härter gilt es, die Täter strafrechtlich zu verfolgen und aus dem Verkehr zu ziehen. Beides ist bis heute noch nicht zufriedenstellend umgesetzt.
Auch eine selbstkritische Hinterfragung derjenigen innerkirchlichen Strukturen (kirchliche Sexualmoral, unnatürliche Zölibatsverpflichtung für alle Priester, Machtstrukturen im Rahmen des Klerikalismus, sich gegenseitig stützende Männerbünde, wirklichkeitsfremde Priesterausbildung in den Priesterseminaren, institutioneller Narzissmus der Kirchenoberen …), die den Kindesmissbrauch begünstigt und deren Aufklärung behindert haben, tritt auf der Stelle, weil nicht wenige führende Köpfe unserer Kirche darin eine Anbiederung an die moderne Welt befürchten.
Mittlerweile ahnt die Bevölkerung, dass wir es beim Thema Missbrauch mit einem gesellschaftsübergreifenden Problem zu tun haben:
Die katholische Kirche ist in Deutschland bisher die einzige Institution, die sich – trotz offensichtlicher Fehler - intensiv mit der Aufarbeitung der Straftaten beschäftigt! Das bestätigte auch der frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Röhrig öffentlich am 14.03.2021 in einem Interview des WDR.
Das heißt: Wir werden in den nächsten Jahren LEIDER immer mehr von Missbrauchsfällen hören: aus den übrigen römisch-katholischen Bistümern, aus den anderen christlichen Konfessionen, aus anderen Religionsgemeinschaften, aus der Welt des Sports und des Show-Business, aus den Schulen … und jeder Vorfall schafft Schmerzen und Leid für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Jeder Vorfall ist einer zu viel!!!
Gefahren im Internet: Sprachlos bin ich gewesen, als mir ein befreundeter Kriminalkommissar von einem seiner Fortbildungskurse berichtete; es ging um das Thema „Kinderpornographie“. Der gestandene Beamte konnte nicht fassen, was er in dieser Schulung an Beispielen zu Gesicht bekommen hat. Noch Wochen später kreisten ihm in schlaflosen Nächten die Bilder und Videos im Kopf herum. Es ist unbegreiflich, was manche Erwachsene selbst Kleinkindern antun können – furchtbar!
Was wir tun können?
Lassen Sie uns als Gesellschaft für das Thema „Sexueller Missbrauch“ gemeinsam eine größere Sensibilität entwickeln. Ein respektvoller und wertschätzender Umgang - auch für Kinder und Jugendliche – muss zu einer Selbstverständlichkeit werden. Das lehrt (nicht nur) der christliche Glaube schon seit 2000 Jahren!!!
„Hinsehen und bei Verdacht Hilfe holen“ oder „Mutig fragen – besonnen handeln“ sind Slogans des Bundesfamilienministeriums, die die Bürgerinnen und Bürger aufrütteln wollen.
Wenn es um detailliertere Verhaltensnormen gerade in der innerkirchlichen Arbeit geht, dann schauen Sie sich bitte das o.g. Präventionskonzept auf unserer Internetseite an.
Unser Seelsorgebereich Hennef-Ost unternimmt viel, dass sich die Fehler der Vergangenheit in unserer römisch-katholischen Kirche nicht wiederholen. Aller Schutz gilt den Kindern und Jugendlichen!
Und: Keine Chance den (potentiellen) Tätern!!!